Gewinner der Karl Max von Bauernfeind-Medaille 2016
Dialog
fatum 5 | , S. 15
Inhalt

Wer ist hier fremd?

Die Ethnologie und die Darstellung des vermeintlich kulturell Fremden

Die Ethnologie ist eine verstehende Kulturwissenschaft. Im Gegensatz zu anderen Disziplinen beruft sie sich fast ausschließlich auf qualitative Daten, wobei die Feldforschung als Königsdisziplin gilt, mit der EthnologInnen möglichst genau Phänomene anderer und mittlerweile auch der eigenen Kultur zu ergründen und beschreiben versuchen. Durch diese Vorgehensweise entstand eine lange Tradition der Fremdrepräsentation, die erst in den ausgehenden 70ern ernsthaft infrage gestellt wurde. Plötzlich fragte man sich, ob man wirklich objektiv bei einer Forschung vorgehen kann oder ob man die Stimmen der „Forschungssubjekte“ genug in die Darstellung inkludierte? Denn wieweit kann man eine andere Kultur, deren Angehöriger man nicht ist, unvoreingenommen verstehen und schließlich ganze Bücher über sie verfassen? Seitdem wurden Forschungen subjektiv, immer auf die Umstände und die Person des Forschenden bezogen. Doch verbesserte sich dadurch auch der Dialog? Werden Kulturen seitdem akkurater dargestellt? Schreiben wir sie nicht immer noch fest?

Wie in vielen sozial- und geisteswissenschaftlichen Disziplinen kam es auch in der Ethnologie Ende der 70er-Jahre zu einem Cultural Turn, der sich insbesondere mit der Konstruktion von Kultur durch das sogenannte Festschreiben in Ethnographien*auseinandersetzte. Zum ersten Mal wurde das gängige Vorgehen in einer breiten wissenschaftlichen Öffentlichkeit hinterfragt und lautstark diskutiert. Angeheizt wurde die Debatte von der Mead-Freeman-Kontroverse. Margaret Mead – eine der ersten bekannten weiblichen Ethnologinnen – betrieb während der 1920er-Jahre eine Feldforschung auf Samoa und berichtete in Coming of Age in Samoa1 von der ausgelassenen Sexualität und der Freiheit, in der Jugendliche dort aufwachsen. Rund 50 Jahre später, nach Meads Tod 1978, erschien die Ethnographie mit dem provokativ anlautenden Titel Liebe ohne Aggression. Margaret Meads Legende von der Friedfertigkeit der Naturvölker.2 des neuseeländischen Ethnologen Derek Freeman, welcher zu vollkommen anderen Ansichten über die EinwohnerInnen Samoas kam. Er bezeichnete sie als äußerst streitbar und aggressiv, dabei kritisierte er auch stark Meads Vorgehen und warf ihr vor, die Sprache nicht vollkommen beherrscht und Dinge verklärt zu haben. Da Mead selbst zu dem Zeitpunkt schon verstorben war, übernahmen andere ihre Position und eine hitzige Debatte entstand, die sich jedoch schnell von den SamoanerInnen abwendete und sich verstärkt mit der gängigen Methode in der Ethnologie beschäftigte. War es möglich, dass zwei Forschende zwei vollkommen unterschiedliche Ethnographien vorwiesen, ohne dass jemand Ergebnisse verfälschte?

EthnologInnen erkannten, dass Dinge wie Zeitpunkt, gesellschaftliche Umstände oder das Geschlecht sowie die Persönlichkeit des Forschenden Auswirkungen auf den Zugang im Feld und damit die ermittelnden Daten haben können. Die Debatte gipfelte 1986 schließlich in dem Sammelband Writing Culture. The Poetics and Politics of EthnographyHerausgegeben von James Clifford und George Marcus und in Zusammenarbeit mit sieben weiteren AutorInnen entstanden eine Reihe von Essays, die sich allesamt kritisch mit der Repräsentation fremder Kulturen auseinandersetzen. Die AutorInnen kritisierten vor allem die vorgegebene Objektivität der EthnologInnen im Feld, indem sie der Annahme widersprachen, man könne die eigene Neutralität während der Forschung wahren.3 Denn nicht nur unterscheiden sich Forschungsgebiete und Kulturen voneinander, auch haben Forschende verschiedene Hintergründe und Persönlichkeiten, die jeweils die Erhebung von Daten beeinflussen können. Wie man durch die Mead-Freeman-Debatte sah, können dadurch sehr unterschiedliche Ethnographien entstehen. Angefangen bei falschen Übersetzungen über Zugangsprobleme aufgrund des eigenen Geschlechts bis hin zu persönlichen Streitereien mit InformantInnen gibt es zahlreiche Faktoren, die den Forschenden und die Arbeit im Feld beeinflussen können. Nach dem einflussreichen französischen Ethnologen Claude Leví Strauss sollte aber gerade jener „Ethnologische Blick“ die Distanz bewahren, die es ermöglicht, fremde Kulturen zu erforschen. Denn man ist noch nicht mit ihrem Wertesystem vertraut und kann somit unvoreingenommen sein, was wiederum eine frische Perspektive ermöglicht.4 Dies beschreibt jedoch nur eine Richtung während der Interaktion im Feld. Eine Forschung erstreckt sich meist über Monate, wenn nicht Jahre. In dieser Zeit kann die Persönlichkeit und der Hintergrund von Forschenden nicht unbeachtet bleiben, weil der Austausch zwischen EthnologInnen und den jeweiligen InteraktionspartnerInnen sowie die Methode der Teilnehmenden Beobachtung** die Forschung beeinflussen. Die Idee bestand also darin, die Subjektivität der eigenen Person anzuerkennen und, statt Neutralität vorzugeben, sich selbst und die eigene Position während der Forschung andauernd kritisch selbst zu reflektieren. Von großer Wichtigkeit wird dies beim anschließenden Schreibprozess, weil sich durch eine ausgiebige Reflexion beim Schreiben kein Eindruck von einer immerwährenden Allgemeingültigkeit einstellen kann. Jonas Fabian bezeichnete diesen Vorgang in Time and the other (1983) als die Erschaffung des Anderen oder auch Othering oder Veranderung genannt. Denn erst durch die Erschaffung von Ethnographien, durch Anmaßung der Objektivität und ihrer Macht des Schreibprozesses, wurden fremde Kulturen zu etwas feststehend Andersartigem gemacht.

Die Abkehr vom positivistischen Wissenschafts- ideal bedeutete eine Wende in der Ethnologie.***Der Schreibstil zahlreicher EthnologInnen veränderte sich, wobei die persönlichen Eindrücke der Forschenden verstärkt in den Vordergrund traten. Von nun an wurden die Probleme, die sich im Feld ereigneten, wie zum Beispiel Schwierigkeiten einen Zugang zu erhalten, Sprachprobleme oder Einsamkeit, thematisiert und selbst als Teil der Forschung angesehen. Als Lesender wurde man nun Teil der Welt des Forschenden und weniger Teil der Welt der erforschten Kultur, denn auf einmal bekamen Faktoren wie persönliche Erlebnisse und Atmosphäre des Forschungsortes eine weitaus größere Bedeutung zugemessen. Entscheidender war jedoch, dass diese Dinge auch einen Platz in den Ethnographien erhielten und so in das Bewusstsein der Öffentlichkeit gelangten. Das hermeneutische Vorgehen wurde von nun an zur gängigen Methode und mit ihr folgte die Interpretative Wende in der Ethnologie, wodurch das Entdecken und die Deutung kultureigener Symbole entscheidend wurden. Clifford Geertz setzte für diese Richtung mit seinem Hahnenkampf auf Bali entscheidende Maßstäbe.5 Gewonnene Erkenntnisse flossen von nun an in den Wissenszirkel mit ein und wurden stetig erweitert, wobei sie stets in ihrem jeweiligen zeitlichen und gesellschaftlichen Kontext eingebettet wurden.

Auch das Bewusstwerden über im Feld entstehende Machtverhältnisse war ein wichtiger Schritt, um Missstände in der Forschung aufzudecken. Die eigene Machtstellung sollte von nun an mehr reflektiert und in die Beobachtungen miteinbezogen werden. Außerdem forderten viele Stimmen in der Ethnologie nun die Einbeziehung der Stimmen der Menschen, die zu Forschungssubjekten gemacht wurden. Einen wichtigen Beitrag lieferte dazu Spivak mit ihrem Aufsatz Can the Subaltern speak, in dem sie vor allem die Stellung der Subalternen und Marginalisierten postkolonialer Länder analysierte, bestehende Machtstrukturen aufdeckte und dabei forderte, ihren Stimmen ebenfalls Gehör und eine Bühne zu geben.6

Eine abstrakte Zeichnung in Farbe von Franny Petersen-Storck, die Mefnschen im einem Museum zeigt.
Im Museum, Quelle: Frannysen, Creative Commons BY-SA 3.0

Die Debatte brachte vor allem zwei neue Methoden hervor. Die dialogische Ethnologie zielte darauf ab, die eigenen Beobachtungen mit den Aussagen von InformantInnen abzugleichen, um verschiedenen kulturellen Perspektiven Ausdruck zu verleihen und GesprächspartnerInnen in Ethnographien ein maßgebliches Rederecht zurückzugeben. AnhängerInnen der polyphonen Ethnologie, oder auch Mehrstimmige Ethnologie genannt, gingen noch einen Schritt weiter, indem sie wortwörtliche Aussagen in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellten. Dabei treten EthnologInnen selbst in den Hintergrund ihrer Forschung und werden zu VermittlerInnen und Sprachrohren. Dadurch sollte vor allem die Hierarchie zwischen Forschenden und Erforschten abgebaut werden.7

Somit hat die Ethnologie in den letzten 30 Jahren deutliche Veränderungen durchgemacht, wobei sich nicht nur die Methoden weiterentwickelten, sondern sich durch eine aufgeschlossenere Herangehensweise auch neue Forschungsfelder jenseits großer kulturbeschreibender Ethnographien eröffneten. Zahlreiche EthnologInnen beschäftigen sich heute mit vermeintlich kleineren Phänomenen oder Gruppen und nicht mehr mit gesamten Gesellschaften, wodurch oftmals eine detailliertere Forschung zu diesen Themen durchgeführt werden kann. Aber hat sich durch die Writing-Culture-Debatte und die Interpretative Wende der Dialog zu den jeweiligen ForschungspartnerInnen verbessert? Liegt die endgültige Macht nicht immer noch bei der EthnografIn, die schließlich ein Buch schreibt, und entscheidet nicht gerade sie oder er, welche Daten verwendet werden?

Bei meiner eigenen Forschung musste ich entdecken, wie verlockend es ist, Interviews in eine bestimmte Richtung zu lenken oder Daten, die nicht in das Gesamtbild zu passen schienen, am Ende unter den Tisch fallen zu lassen. Denn am Ende einer jeden Forschung kommt man mit einem Datenberg nach Hause, der je nach Methode sortiert werden muss, und was relevant erscheint, entscheidet am Ende die oder der Forschende selbst. Wie also sollte man am besten mit Daten und Forschenden sowie Erforschten umgehen? Und schafft sich die Ethnologie mit dieser Debatte nicht selbst ab?

Ganz werden Machtstrukturen im Feld nicht abgebaut werden können. Wichtig ist jedoch aus den passiv „Erforschten“ Interaktions- oder GesprächspartnerInnen zu machen. Denn ohne ihre Bereitschaft und ihre Unterstützung des Vorhabens ist keine Feldforschung möglich. Man darf eine Forschung also nicht als eine einseitige Sache sehen, denn genau so wie InformantInnen erwarten, dass ihre Aussagen wahrheitsgemäß wiedergegeben werden, müssen EthnologInnen auch auf die Aufrichtigkeit ihrer InformantInnen vertrauen. Forschung ist somit durchaus eine reziproke Angelegenheit. Hat man erstmal die eigene Subjektivität anerkannt und sich einen kritischen und reflexiven Umgang mit sich selbst angewöhnt, kann man schwierige Machtverhältnisse aufdecken und diese selbst thematisieren. Ein kritischer Umgang ist also wichtig, man darf dabei aber nicht in die Falle der Verunsicherung tappen, die es einem aufgrund zu großer Relativierungen nicht ermöglicht, Aussagen zu treffen. Die Waage zwischen Verallgemeinerungen und sehr spezifischen Erkenntnissen ist nur sehr schwer zu halten. Für eine Feldforschung ist vor allem Zeit wichtig, sowie viele Gespräche mit unterschiedlichen Menschen, denn schließlich hat auch nicht jeder die gleiche Meinung. Entscheidend sind also die Kontextualisierung und der häufige Dialog. Nach zahlreichen Interviews und Beobachtungen kann man die erworbenen Daten auswerten und Aussagen treffen, die jedoch beim Schreibprozess nochmal kritisch beleuchtet und dargestellt werden müssen. Denn genau so müssen Ethnographien auch gelesen werden – kritisch. Dabei sollten sie auch nie als die vollkommene Wahrheit aufgenommen werden, sondern immer nur als ein kleiner Teil eines sich immer weiter entwickelnden Wissensschatzes.


  1. Margaret Mead, Coming of Age in Samoa. A Psychological Study of Primitive Youth for Western Civilisation (New York: HarperCollins Publishers, 2001 [1928]).
  2. Derek Freeman, Liebe ohne Aggression. Margaret Meads Legende von der Friedfertigkeit der Naturvölker (München: Kindler, 1983).
  3. James Clifford und George E. Marcus, Writing Culture. The Poetics and Politics of Ethnography (Berkeley: The University of California Press, 1989).
  4. Claude Levi-Strauss, Der Blick aus der Ferne (Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 2008).
  5. Clifford Geertz, Deep Play: Bemerkungen zum balinesischen Hahnenkampf, Clifford Geertz (Hrsg.), Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme (Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1983), 202–260.
  6. Gayatri Spivak, Can the Subaltern speak?, Cary Nelson & Lawrence Grossberg (Hrsg.), Marxism and the Interpretation of Culture (Chicago: University of Illinois Press, 1988).
  7. Frank Heidemann, Ethnologie. Eine Einführung. (Göttingen: Vandenhoeck & Rupprecht GmbH & Co. KG, 2011), 123f.

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