Gewinner der Karl Max von Bauernfeind-Medaille 2016
Träume und Wahrheiten
fatum 3 | , S. 75
Inhalt

Wo sind wir, wenn wir Technik treiben?

Über den Ursprung technischer Artefakte im Fiktiven

Die Variation bekannter Zitate scheint in den Geisteswissenschaften eine wichtige Sache zu sein. Entsprechend soll hier – anschließend an die gnostische Theologie (Wo sind wir, wenn wir in der Welt sind?), an Hannah Arendt (Wo sind wir, wenn wir denken?) und Peter Sloterdijk (Wo sind wir, wenn wir Musik hören?)1 – gefragt werden: Wo sind wir, wenn wir Technik treiben?

Die vorgeschlagene Antwort, die im Folgenden weiter erörtert und illustriert wird, lautet: Technik treiben heißt, in einen Raum des Fiktiven eintauchen, in dem unter Zuhilfenahme verschiedener modellhafter Repräsentationen Entwürfe konzeptioniert, konkretisiert und kontextualisiert werden. Es wird hier also eine Phänomenologie des technisch-konstruktiven Handelns versucht, die sich der Begrifflichkeiten der Erzähltheorie bedient und einige Berührungspunkte mit der wissenschaftsphilosophischen Modelldiskussion aufweist.2

Unsere Lebenswelt wird immer schneller mit immer mehr neuen technischen Gegenständen bevölkert. Wenn man nicht gerade ein platonischer Hardliner* ist und somit annimmt, dass diese immer schon in einer zeitlosen Ideenwelt existieren, ist es doch verwunderlich, wo alle diese Gegenstände herkommen. Eine etwas plumpe Erklärung wäre: Techniker und Ingenieure denken sie sich aus. Hierbei klingt bereits das Wesentliche an: Ausdenken ist ein fiktionaler Akt. Es geht darum, Dinge zu ersinnen, die es so (noch) nicht gibt. Technik hat also in irgendeiner Form ihren Ursprung im Fiktiven. Doch wie genau sieht dieses Ausdenken aus?

Im Normalfall beginnt die Technikentwicklung mit einer Problemstellung. Für solche Problemstellungen ist es charakteristisch, dass es verschiedene Lösungsmöglichkeiten gibt.3 Techniker und Ingenieure zeichnen sich entsprechend dadurch aus, in diesem Möglichkeitsraum navigieren zu können. Die schönste mir bekannte Beschreibung dieser Fähigkeit findet sich in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften:

Wenn es aber Wirklichkeitssinn gibt, und niemand wird bezweifeln, daß er seine Daseinsberechtigung hat, dann muß es auch etwas geben, das man Möglichkeitssinn nennen kann. Wer ihn besitzt, sagt beispielsweise nicht: Hier ist dies oder das geschehen, wird geschehen, muß geschehen; sondern er erfindet: Hier könnte, sollte oder müßte geschehn; und wenn man ihm von irgend etwas erklärt, daß es so sei, wie es sei, dann denkt er: Nun, es könnte wahrscheinlich auch anders sein. […] Da seine Ideen […] nichts als noch nicht geborene Wirklichkeiten sind, hat natürlich auch er Wirklichkeitssinn; aber es ist ein Sinn für die mögliche Wirklichkeit […].4

Obwohl sich diese Schilderung in Musils Roman in keiner Weise auf Technik bezieht, liest sie sich als Ingenieur wie eine präzise Beschreibung der eigenen Tätigkeit. Technik in der Planungsphase kann genau als ebensolche noch nicht geborene Wirklichkeit beschrieben werden.

Betrachtet man nun, wie in dem angesprochenen Möglichkeitsraum operiert wird, so stellt man fest, dass Techniker das sprichwörtliche Rad nicht jedes Mal neu erfinden. Bereits existierende Elemente werden verwendet, um neue Lösungen zu generieren. Der amerikanische Ingenieur und Technikphilosoph Walter Vincenti beschreibt dieses Vorgehen als variation-selection process.5 Elemente, die so immer wieder neu kombiniert werden, sind beispielsweise Schrauben und Lager im Falle mechanischer Konstruktionen, Widerstände und Transistoren für elektronische Schaltungen und Softwarebausteine wie elementare Algorithmen in der Informatik.

Um die fiktionale Natur des technischen Konstruktionsprozesses zu unterstreichen, soll die Analogie mit einem anderen typischen Prozess der Fiktionsproduktion aufgezeigt werden: der literarischen Erzählung. Auch hier gilt die angesprochene Lösungsoffenheit und auch hier werden neue literarische Objekte aus bereits gegebenen Elementen – Wörtern, Wendungen, Erzählbausteinen, Bildern – hervorgebracht. Entsprechend schreibt der deutsche Literaturwissenschaftler Albrecht Koschorke: Erzählen erprobt Möglichkeiten der Ereignisverkettung und sei eine Schulung des Möglichkeitssinnes.6 Beispiele hierfür sind leicht zu finden: Fabelwesen wie Einhörner oder Zentauren werden offensichtlich durch die Kombinationen verschiedener Tierkomponenten konstruiert. Weiterhin kann die literarische Fiktion historische Elemente neu kombinieren, wie dies etwa Philip K. Dick in seinem Roman The Man in the High Castle tut, in dem das Szenario durchgespielt wird, dass Deutschland und Japan den Zweiten Weltkrieg gewinnen.

Doch während im Bereich der literarischen Fiktion ein sprachlicher „variation-selection process“ betrieben wird, ist Sprache offensichtlich nicht das dominante Medium in den ersten Phasen der Technikentwicklung. Hier wird viel mehr mit Handskizzen, technischen Zeichnungen, mechanischen Skalenmodellen und Rechenmodellen verschiedener Komplexität gearbeitet.7 Alle genannten Medien werden hier unter dem Konzept des Modells zusammengefasst. In den letzten Jahren gab es in der Philosophie eine intensive Diskussion über die Rolle von Modellen in der Wissenschaft.8 Dabei wurde unter anderem herausgearbeitet, dass bestimmte (vereinfachte) Modellsysteme (Vorstellungen, Gleichungen, Experimentalaufbauten) verwendet werden, um etwas über sogenannte Target-Systeme (vom Modell verschiedene Gegenstandsbereiche) zu lernen. Vor einigen Jahren hat in diesem Zusammenhang der Wissenschaftstheoretiker Roman Frigg auf die tragende Analogie zwischen Modellen und Fiktionen hingewiesen.9 Er schlägt vor, naturwissenschaftliche Modelle als imagined physical systems zu interpretieren und das Lernen aus Modellen analog zu verstehen, wie den Prozess, in dem man aus Geschichten etwas über die reale Welt lernt. Frigg beantwortet also die Frage nach dem ontologischen Status von Modellen, indem er sie allgemein als vorgestellte Systeme versteht.** Durch die intensive Verwendung von Modellen in der Technik liegt hiermit ein weiterer Hinweis auf die fiktionale Natur des technischen Planungs- und Konstruktionsprozesses vor. Friggs Beobachtung verschärft sich noch, wenn man einen etwas genaueren Blick auf den Einsatz von Modellen in der Technik wirft. Denn während es im Falle von naturwissenschaftlichen Modellen zumindest einen korrespondierenden Gegenstandsbereich in der Welt gibt, der durch das Modell abgebildet wird, ist dies im Entwicklungsprozess von technischen Artefakten gerade (noch) nicht der Fall. Das Artefakt ist eben das, was entwickelt wird und hat daher während seiner Konstruktion noch keine Entsprechung in der Welt. Technische Modelle sind daher in einem doppelten Sinne fiktional: bezüglich ihres ontologischen Status (wie von Frigg herausgearbeitet) und bezüglich ihres noch fiktiven Targets.

Storyboard Session for Silly Symphonies.
Storyboard Session for Silly Symphonies, Walt Disney (center) © 2013 Tom Simpson, verfügbar unter Creative Commons Attribution-ShareAlike 2.0 Unported: https://www.flickr.com/photos/rendar/9909

Nach dieser ersten Bestandsaufnahme soll nun ein konkretes Beispiel für ein technisch-konstruktives Problem betrachtet werden. Der amerikanische Phänomenologe und Technikphilosoph Don Ihde berichtet, dass er bereits Anfang der 1990er Jahre die Umgestaltung seiner Küche durch ein CAD-Computerprogramm (CAD: Computer Aided Design) geplant habe.10 Basierend auf den geometrischen Dimensionen des Raumes habe er am Rechner verschiedene Anordnungen von Möbeln, Geräten und weiteren Einrichtungsgegenständen durchprobiert und sich am Ende für die von ihm favorisierte Konfiguration entschieden. Hier zeigt sich der prototypische „variation-selection process“: Mit gegebenen Elementen, hier den Einrichtungsgegenständen, werden in einem iterativen Prozess verschiedene Lösungsmöglichkeiten getestet und am Ende eine zufriedenstellende Variante ausgewählt. Diese Konzeptionierung findet nicht im Medium der Sprache statt, sondern unter Zuhilfenahme von Modellen, die in dem erwähnten CAD-System umgesetzt werden. Ein weiteres Detail fällt an Ihdes Beispiel auf: Die Geometrie des Raumes setzt seinen Fiktionen Grenzen. Es haben nicht beliebig viele Einrichtungsgegenstände in seiner Küche Platz, außerdem sind nicht beliebige Kombinationen an Gegenständen möglich. Diese Beobachtung lässt sich generalisieren: Techniker können nicht gegen naturwissenschaftliche Tatsachen konstruieren; die Technikentwicklung kann in diesem Sinne ganz wörtlich als Science Fiction beschrieben werden. Bereits die Planung einer Küche weist verschiedene Konkretisierungsstufen auf. Zuerst können Möbel an sich festgelegt werden. In weiteren Schritten wird diese Auswahl dann verfeinert, indem etwa die Holzart der Schränke, wie auch die Ausführung der Arbeitsflächen und die Ausstattung mit Küchengeräten, spezifiziert wird. Diese schrittweise Konkretisierung von Lösungsmöglichkeiten ist ein weiteres Charakteristikum des technischen Konstruktionsprozesses. Hierbei gilt: Je größer eine technische Problemstellung, desto mehr Konkretisierungsschritte werden nötig.

Das angeführte Beispiel ist dem Artikel From da Vinci to CAD and Beyond entnommen. Diese Quelle wurde bewusst gewählt, da der Aufsatz gleichzeitig eine typische Lücke in der gegenwärtigen Diskussion zeigt. Don Ihde betrachtet hier verschiedene bildgebende Verfahren in den Natur- und Technikwissenschaften. Allerdings stellt er alle Verfahren undifferenziert in eine Reihe. Dabei fallen gerade naturwissenschaftliche Anwendungen in den Bereich des „Wirklichkeitssinns“, indem sie Dinge der Welt visualisieren, während darstellende Werkzeuge in der Technik eben noch nicht realisierte Möglichkeiten vorstellbar und diskutierbar machen (wie im Beispiel die neue Küche). Diese Nichtbeachtung des „Möglichkeitssinns“ als Basis der technischen Vorstellungskraft zeigt sich auch in vielen aktuellen Einführungen in die Technikphilosophie: Man findet dort etwa detaillierte Erörterungen über den technischen Funktions- und Artefaktbegriff, jedoch kaum Hinweise darauf, wie diese Funktionen und Artefakte primär hervorgebracht werden.

Eine Theorie technischer Fiktionen wird benötigt, um diese Lücke zu schließen. Eine solche Theorie ist außerdem eine wichtige Ergänzung der Technikethik und überlappt teilweise mit der Disziplin der Technikfolgenabschätzung. Mögliche Technikfolgen sollten schon im Konstruktionsprozess, d. h. weit vor der letztendlichen Realisierung, reflektiert werden; dies wurde zu Beginn als „Kontextualisierung“ bezeichnet. Im Entwurfsprozess muss schon detailliert analysiert werden, wie das geplante Artefakt mit anderen technischen Gegenständen harmoniert, wie es mit der natürlichen Umwelt wechselwirkt und welche sozialen Implikationen es birgt. In diesem Sinne sollte der technische Planungsprozess nicht nur als Science Fiction verstanden werden, wie oben ausgeführt, sondern ebenso als Environmental Fiction und Social Fiction.

Während die Konzeptionierung und Konkretisierung von technischen Artefakten als analog zur Literatur beschrieben wurde, um ihre fiktionale Natur zu unterstreichen, überschreitet die eben ausgeführte Kontextualisierung weitgehend diese Analogie; hier geht es nun direkt um sprachlich codierte Fiktionen. Dabei ist noch herauszuarbeiten, wie der Übergang von der modellhaften Repräsentation geplanter Artefakte zur sprachlichen Fassung ihrer gesellschaftlichen Implikationen geschieht. Daneben stellen sich eine Vielzahl weiterer spannender und wichtiger Fragen, beispielsweise: Wer sind die Autoren der entsprechenden technisch-gesellschaftlichen Fiktionen bzw. wer sollte legitimerweise Teil dieses Autorenkollektivs sein? Wie sollten die entsprechenden Diskurse geführt werden, in einem Spektrum, das aufgespannt wird zwischen radikaler technischer Utopie und Dystopie? In welchen größeren gesellschaftlichen Narrativen sind die konkreten Diskurse eingebettet11 und sind diese bekannt oder müssen sie noch expliziert und ggf. kritisiert werden?

Damit wird deutlich, wo sich der präsentierte Ansatz und die Technikethik berühren. Die aufgeworfenen Fragen können nur in einer engen Zusammenarbeit zwischen Technik-, Geistes- und Gesellschaftswissenschaften beantwortet werden. Für eine abgrenzbare, verwendbare und kritisierbare Theorie technischer Fiktionen müssen zudem die hier noch ungenau verwendeten Begrifflichkeiten und Konzepte weiter präzisiert werden. Ziel dieses Beitrages war es, eine erste Skizze einer solchen Theorie zu liefern und ihr Potential aufzuzeigen.


  1. Vgl. Peter Sloterdijk, Weltfremdheit (Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1993), 294. Hinweise auf die weiteren genannten Formulierungen finden sich ebenfalls dort.
  2. Andere spannende Berührungspunkte, wie die mit Hans Vaihinger, Philosophie des Als Ob (online verfügbar unter https://archive.org/details/DiePhilosophieDesAlsOb, aufgerufen: 26. September 2015) und Jean Baudrillard, Simulacra and Simulation (Ann Arbor: The University of Michigan Press, 1993), können hier nicht weiter verfolgt werden.
  3. Vgl. z. B. Günter Ropohl, Technologische Aufklärung (Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 1999), 38.
  4. Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Kapitel 4, http://gutenberg.spiegel.de/buch/der-mann-ohne-eigenschaften-erstes-buch-7588/5 (aufgerufen: 26. September 2015).
  5. Walter Vincenti, What Engineers Know and How They Know It (Baltimore: The Johns Hopkins University Press, 1990), 241–257. Ähnliche Überlegungen finden sich in Abbott P. Usher, A History of Mechanical Invention (New York: Dover Publications, 1988), 69, 72, 117, und Brain W. Arthur, The Nature of Technology (New York: Free Press, 2009).
  6. Albrecht Koschorke, Wahrheit und Erfindung (Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 2012), 214.
  7. Vgl. z. B. Kathryn Henderson, On Line and on Paper (Cambridge: The MIT Press, 1999).
  8. Roman Frigg und Stephan Hartmann, Models in Science, in: Edward N. Zalta (ed.), The Stanford Encyclopedia of Philosophy, Fall 2012 Edition, http://plato.stanford.edu/archives/fall2012/entries/models-science (aufgerufen: 26. September 2015).
  9. Roman Frigg, Models and Fiction, Synthese 172, no. 2 (2010), 251–268.
  10. Don Ihde, From da Vinci to CAD and Beyond, Synthese 168, no. 3 (2009), 453–467.
  11. Zum Begriff des Narratives und den darin verkörperten Machtstrukturen vgl. Albrecht Koschorke, 247, 293.

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