Gewinner der Karl Max von Bauernfeind-Medaille 2016
Träume und Wahrheiten
fatum 3 | , S. 54
Inhalt

Marx, Wittgenstein und die Frage der Wahrheit

Obwohl Karl Marx und Ludwig Wittgenstein nichts miteinander zu tun haben hinsichtlich der Themen, mit denen sie sich beschäftigten, haben sie eine grundsätzliche Gemeinsamkeit darin, wie sie mit der Frage nach der Wahrheit umgingen.

Der frühe Wittgenstein verstand die Wahrheit im Tractatus logico-philosophicus als eine Übereinstimmung zwischen einer Aussage und einer Tatsache. Jede Aussage besteht dabei aus Wörtern und ist wahr, wenn sie mit der von ihr beschriebenen Tatsache übereinstimmt. Wörter beziehen dabei ihre Bedeutung aus dem jeweils (mit eben jenem Wort) Bezeichneten in der Welt. Später, in den Philosophischen Untersuchungen, änderte Wittgenstein seine Meinung über Sprache grundsätzlich. Ein Wort erhält seine Bedeutung nun durch dessen Gebrauch in einem praktischen Kontext. Die Regeln, welche die Verwendung der Wörter innerhalb eines konkreten Kontextes bestimmen, müssen dabei von allen Beteiligten gleichermaßen eingehalten werden. Jedes Kommunizieren bildet daher eine Art „Sprachspiel“: Alle Kommunikationsteilnehmer müssen sich gewissermaßen an „Spielregen“ halten, um voran zu kommen. Wir alle nehmen an vielen solcher Sprachspiele teil: Fachsprache, Alltagsprache, Amtssprache, Juristendeutsch usw. Hier gibt es keine notwendige und ausreichende Beziehung zwischen dem Wort (dessen Bedeutung/Sinn) und einem Gegenstand. D. h. es gibt keine Sprache, die die Wirklichkeit wahrhaftig und eindeutig beschreibt, sondern wir besitzen unterschiedliche Sprachen für unterschiedliche Situationen des Lebens. Die Sprache, die wir jeweils verwenden, ist also vom jeweiligen Kontext abhängig. Ob eine Aussage sinnvoll ist oder nicht, hängt somit vom Kontext ab, in dem sie geäußert wird. Dabei ist es wichtig, ob die Wörter nach den Spielregeln des jeweiligen Sprachspiels richtig verwendet werden. Die Wahrheit (oder auch der Sinn der Wörter) ist hier an den jeweiligen sozialen Kontext der Verwendung gebunden.

Für lange Zeit wurde auch zwischen dem „jungen“ und dem „alten“ Marx unterschieden. Der junge Marx, Autor der Ökonomisch-Philosophischen Manuskripte, vertrat eine kritische, ideale und humanitäre Position: eine idealisierte, vielfältige Vorstellung des Menschen und seiner Schaffung der Geschichte. Dahingegen war der alte Marx, Autor von Das Kapital, stark mit einer wissenschaftlich geprägten Vorstellung der Welt und der Idee einer von Gesetzen determinierten Geschichte verbunden. Marx verwendete allerdings eine dualistische Sprache, welche zwar seiner wiederum dualistischen Vorstellung von der Gesellschaft bestehend aus Basis und Überbau gerecht wurde, aber auch logische Schwierigkeiten mit sich brachte.

Weitere zentrale Fragen, wie etwa Wie begreifen wir die Welt? und Was ist die wahre Beschreibung der Welt?, decken eben jene logischen Schwierigkeiten auf. Nach Marx enthält beispielsweise jede Ideologie, die mit einem falschen Bewusstsein einer Gesellschaft verkoppelt ist, das Bild der Welt nach der Vorstellung der herrschenden Klasse. So sind die in der Wissenschaft, Wirtschaft oder alltäglichen Diskursen auftauchenden Vorstellungen über das Wesen des Menschen als ein eigenbrötlerischer Nutzenmaximierer nach Marx stets nur ein Spiegelbild der Bourgeoisie. Jedes Bild der Welt ist für Marx daher von zweierlei Dingen abhängig: von der historischen Entwicklung und von der Klassenangehörigkeit. Nichtsdestotrotz ist nach seiner eigenen Auffassung der historische Materialismus, der für ihn das Bewusstsein des Proletariats ist, die einzig richtige Erklärung der Gesellschaft und Geschichte und somit auch das einzig wahre Bild der Welt. Die hier zuerst aufgeführte, kontextabhängige Auffassung des jungen Marx’ reflektiert die kritische Dimension Marx’, die einen starken Zweifel an allen Wahrheitsansprüchen, welche die realen Verhältnisse der Klassenherrschaft verstecken, beinhaltet. Der alte Marx glaubte hingegen an eine richtige, wissenschaftliche Erklärung der Welt. Wie diese zwei Ansprüche Marx’ in Einklang zu bringen sind, ist eine schwierige Frage.

Innerhalb dieser Überlegungen über die Welt und die Wahrheit von Marx und Wittgenstein kann man also zwei grundlegend verschiedene Weltanschauungen identifizieren: Eine rationale, objektive, wissenschaftlich geprägte Weltanschauung, unter der man die Wahrheit als eine Beschreibung der Tatsachen versteht und eine kritische Weltanschauung, bei der man den Kontext und die dahinter versteckten Interessen und Motivationen betrachtet. Diese beiden Anschauungen scheinen sich für Wittgenstein in Form eines „entweder, oder“ (seine frühe vs. späte philosophische Position) auszuschließen.1 Bei Marx hingegen existierten die beiden Anschauungen parallel (junger und alter Marx). Man muss aber auch bemerken, dass jede Weltanschauung für sich allein unter ihren eigenen Schwierigkeiten leidet.

Wenn Wahrheit als mit der Wirklichkeit übereinstimmende Beschreibungen verstanden wird, wie konnten sich dann die vielen verschiedenen und real existierenden Weltanschauungen und Zivilisationen entwickeln? Wie werden die Kriterien festgelegt, welche die Übereinstimmung zwischen Aussagen und Tatsachen bestimmen? Eine einfache Antwort könnte lauten: Empirie. Aber durch die Arbeiten von Thomas Kuhn wissen wir, dass diese Antwort zu einfach wäre. Empirie funktioniert ihm zufolge nur in einem vorher festgelegten Paradigma. Wenn man beispielsweise innerhalb der Geisteswissenschaften betrachtet, was denn Übereinstimmung überhaupt heißt – was wären dann beispielsweise die Kriterien einer „wahren Erklärung“ in der Ökonomie, welche die wirtschaftliche Krise Griechenlands erklärt und obendrein eine Lösung bereitstellt? Einfache Lösungen gibt es auf solche Fragen nicht. Hierfür gibt es zu viele unterschiedliche Meinungen. Diese Meinungsverschiedenheiten sind bezeichnend dafür, wie schwer es ist, über Kriterien zu sprechen und zwischen ihnen und den Interessen der unterschiedlichen Gruppen zu trennen. Experten üben in solchen Fällen eine gewisse Macht aus, weil sie im Namen der Wissenschaft sprechen und meistens auch diejenigen sind, die entscheiden, was im Endeffekt als „wahr“ gilt und was nicht. Dabei verkleidet ihre scheinbar neutrale Sprache ihre eigentlichen Interessen unter dem Deckmantel der Wissenschaft. Ihre Sprache beschreibt nicht die Wirklichkeit. Sie können uns lediglich den Rahmen geben, innerhalb dessen wir darüber nachdenken können, was möglich und plausibel ist und was nicht. Für uns ist es beispielsweise unmöglich, scharf zwischen den von der Ökonomie gelieferten Erklärungen der Griechenlandkrise und den mitgelieferten potentiellen Lösungen zu trennen. Grundsätzlich kann nämlich zwischen einem ökonomischen Bild der Realität und den damit einhergehenden ökonomischen Interessen bzw. tendenziösen Weltanschauungen (bspw. die bürgerliche Realität) bzgl. der Natur des Menschen, nicht eindeutig unterschieden werden. Jede Sprache, mit der wir unser soziales Leben zu begreifen versuchen, beeinflusst – wenn nicht gar gestaltet – automatisch unser soziales Leben. Wir können also weder begreifen ohne dabei zu gestalten, noch umgekehrt. Zwischen Interesse und Wissen können wir daher auch nicht strikt unterscheiden.

Wenn sich also persönliches Interesse hinter den Ansprüchen von Wissen verbirgt, bedeutet das, dass Macht das Wissen bestimmt. Diese Macht geht dem Wissen voraus. In der Naturwissenschaft ist diesbezüglich der vom Philosophen Paul Feyerabend vorgebrachte Slogan „anything goes“ weitverbreitet. Wissenschaftliche Aussagen über die Wirklichkeit erhalten ihren Sinn und ihre Wahrheitswerte aus dem Kontext, in dem sie entstanden sind. Diese Auffassung löst sich im Rationalismus auf, der selbst wieder relativistisch verstanden werden kann. Wie kann es denn überhaupt möglich sein, ein Urteil über konkurrierenden Aussagen zu fällen, wenn die Verbindungen zwischen der Welt bzw. Realität und den Aussagen über die Welt gebrochen sind? Diese Auffassung kann uns zudem nicht erklären, wie wir ein Gespräch führen, uns gegenseitig etwas erklären und uns vielleicht überzeugen können.

Beide hier aufgeführten Weltanschauungsmodelle, sowohl das rationale und das kritische, halte ich für wichtig. Keines könnte und sollte zugunsten des anderen aufgegeben werden. Trotz allem ist es immer noch sehr schwierig, herauszufinden, wie sich beide Auffassungen auf theoretischer Ebene miteinander verbinden lassen.


  1. Ernest Gellner, Language and Solitude: Wittgenstein, Malinowski and the Habsburg Dilemma (Cambridge: Cambridge University Press, 1998).

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