Gewinner der Karl Max von Bauernfeind-Medaille 2016
Logik, Moral und Welten
fatum 2 | , S. 78
Inhalt

Das Tier neu (be‑)denken

Der Tierbegriff als grundlegendes Problem in Biologie und Ethik

In meinem Nebenjob als Kellnerin hatte ich vor kurzem ein seltsames Erlebnis. Ich habe einer Kundin, die vegan lebt, versichert, dass im vegetarischen Burger auch keinerlei Milchprodukte enthalten sind. Dann fügte ich aber hinzu, mich noch einmal in der Küche vergewissern zu müssen, dass in dem dazugehörigen Brötchen keine Hefe verbacken sei. Die Dame starrte mich verständnislos an, bis mir dämmerte, dass Hefepilze nicht unter die Ausschlusskriterien von Veganern fallen.

Wie konnte es zu diesem Missverständnis kommen? Die Dame hat natürlich völlig recht mit ihrer Annahme, dass Pilze keine Tiere sind, sondern eine eigene Subdomäne biologischer Organismen darstellen. Aber wenn ich – als Biologin – an Hefen denke, denke ich nicht an die kubische Knetmasse, die man im Supermarkt kaufen kann, sondern an Lebewesen, die ich unter dem Mikroskop beobachte. Ich habe nicht vor, an dieser Stelle für den Schutz von Hefen zu argumentieren. Aber der Vorfall hat mich wieder einmal darauf aufmerksam gemacht, wie sehr unsere Überzeugungen darüber, welche Lebewesen als schützenswert zu betrachten sind, von unserem jeweiligen Zugang zu ihnen abhängen.

Deswegen möchte ich mich in diesem ersten Artikel aus der Reihe „Neue Wege der Tierethik“ mit der Bestimmung des Gegenstandsbereichs der Tierethik auseinandersetzen. Da ihre Objekte biologischen Ursprungs sind, liegt es nahe, nach einer naturwissenschaftlichen Definition tierischen Lebens zu suchen. Als gemeinsame Merkmale aller mehrzelligen Tiere (Metazoa) werden in der Biologie (1) der Besitz von Zellkernen (Eukaryonten), (2) die Ernährung durch andere Organismen (Heterotrophie) und (3) die Angewiesenheit auf Sauerstoff (aerobe Lebensweise) angeführt. Demnach sind die fundamentalen Unterschiede zwischen Tieren und anderen Lebewesen physiologische Parameter, zu deren Nachweis eine experimentelle Apparatur nötig ist. Für die Merkmale tierischen Lebens, die einem Betrachter unmittelbar zugänglich sind, wie Motilität und Reizbarkeit, muss ein geringeres Maß an Allgemeingültigkeit in Kauf genommen werden. So finden sich Formen von gerichteter Bewegung auch bei nicht-tierischen Lebewesen, beispielsweise die Chemotaxis bei Bakterien. Tierische Schwämme (Porifera) besitzen dagegen kein Nervensystem und sind weitgehend sesshaft. Die Zuordnung von Merkmalen zu den verschiedenen Lebensformen hat also eher Regelcharakter, statt eine Gesetzmäßigkeit darzustellen. Ausnahmen und Übergangsformen weisen auf einen Sachverhalt hin, der in unserem Alltagsverständnis übersehen und auch von den Biologen selbst gerne ignoriert wird: Die Klassifikation von Lebewesen basiert auf der Zusammenfassung von Individuen in Klassen, wobei die Zugehörigkeit zu einer Klasse durch den Besitz spezifischer, gemeinsamer Merkmale gegeben ist. Die Bestimmung der entscheidenden Merkmalskombination beruht auf Konventionen und ist damit als kontingent zu betrachten. Aktuell haben sich phylogenetische, also stammesgeschichtliche Merkmale gegenüber phänotypischen Merkmalen durchgesetzt (siehe Abbildung). Angesichts der Debatten, welche die Entwicklungsbiologie heute noch über die Zugehörigkeit einzelner Arten zu bestimmten Gattungen führt, ist es fraglich, ob sie das Tier als Lebensform in einer Weise definieren kann, die als alleinige Bestimmung des Gegenstandsbereichs der Tierethik hinreichend ist. Eine zusätzliche philosophische Abgrenzung bietet sich also an.

Unabhängig von ihrem jeweiligen Bereich versteht sich die Ethik grundsätzlich als eine Wissenschaft von der menschlichen Handlungspraxis. Die Tierethik muss daher eine bestimmte Art der Mensch-Tier-Interaktion zum Thema haben. Will man nun versuchen, die Tierethik – mittels philosophischer Methoden – als Teildisziplin der Ethik zu bestimmen, so bietet es sich an, sie von verwandten Wissenschaftsgebieten abzugrenzen.* Hier kommen insbesondere die Umweltethik und die Bioethik in Betracht. Jedes dieser Teilgebiete untersucht die menschliche Praxis in einen spezifischen, biologischen Kontext auf seinen moralischen Gehalt, und betrachtet dazu die Konsequenzen für den biologischen Handlungskontext als maßgebliches Kriterium. Außerdem stellen Tiere auch in der Bio- und Umweltethik einen zentralen Problembereich dar. Die Bioethik setzt sich mit dem Leben als solchem auseinander und umfasst damit natürlich auch das tierische Leben. Gerade im medizinischen Bereich werden häufig tierethische Fragestellungen tangiert, beispielsweise wenn es um die Gewinnung von Insulin aus Schweinen oder um Xeno-Transplantation, also den Transfer von tierischen Organen in Menschen, geht.

Abstammungsline der drei Domänen der Lebewesen
Die Entwicklung des Lebens: Abstammungsline der drei Domänen der Lebewesen; Eukaryonten z.T. mit Subdomänen.

Charakteristisch für die Bioethik ist jedoch ihr Verfahrensbezug, das heißt der unmittelbare technologiebasierte Eingriff in den natürlichen Organismus, und das Kernproblem der Technikfolgenabschätzung im Bereich der Biotechnologie. Die Umweltethik nimmt dagegen konkret Bezug auf die Lebensbedingungen von Tieren ohne eine direkte, menschliche Interaktion mit den betreffenden Organismen als Voraussetzung zu haben – etwa wenn es um Artenschutz und Biodiversität geht. Gleichzeitig wird das Tier im Rahmen der Umweltethik zumeist im Kontext von Ökosystemen betrachtet, also nicht hinsichtlich des einzelnen individuellen Organismus, sondern als Gattung mit einer spezifischen Funktion in einer Gemeinschaft unterschiedlicher Spezies in einem bestimmten Lebensraum.

Die Tierethik thematisiert die Mensch-Tier-Beziehung nochmals unter anderen Voraussetzungen und Aspekten. Anders als die Bioethik bezieht sie sich primär auf das ganze, lebendige Tier und ist zunächst einmal unabhängig von den moralischen Konsequenzen von Mensch-Tier-Interaktionen, die über die Folgen für das Tier hinausgehen. In Abgrenzung von der Umweltethik orientiert sich die Tierethik am einzelnen, tierischen Individuum, selbst wenn sie natürlich bemüht ist, Normen zu gewinnen, die auf alle Organismen einer Gruppe angewendet werden können und sollen. Ein Tier ist eben deswegen Gegenstand der Tierethik, weil wir es als lebendiges Individuum wahrnehmen. Die Aufgabe der Tierethik ist es, Aussagen darüber zu machen, wie sich der Mensch in Bezug auf die tierischen Individuen, mit denen er interagiert, verhält und verhalten soll.

Damit ist freilich noch nichts darüber gesagt, ob allen tierischen Organismen diese Form der Individualität, die den Geltungsanspruch tierethischer Normen begründet, zugesprochen werden kann bzw. soll, oder ob es relevante Unterscheidungskriterien innerhalb des Tierreichs gibt. Bevor wir intuitiv entscheiden, sollten wir uns allerdings bewusst machen, dass unsere Urteilsfähigkeit, durch unsere natürliche wahrnehmungsphysiologische Beschränktheit und psychologische Faktoren, getrübt werden kann. So fällt es uns beispielsweise schwer, Tiere, die wir nur im Verband wahrnehmen (Schwarmtiere) als Individuen zu erkennen. Anderen Tieren begegnen wir mit – zum Teil begründeter – Abneigung (z.B. Zecken) und tendieren daher dazu, ihnen keinen individuellen Wert zuzuschreiben. Ein Fehlurteil würde hier bedeuten, dass wir unzureichend begründet Lebewesen aus dem Verantwortungsbereich ausschließen. Es ist jedoch prinzipiell auch der umgekehrte Fall denkbar – also die ungerechtfertigte Aufnahme von Organismen in den Verantwortungsbereich. Gerade hier ist die Philosophietradition erstaunlich inkonsistent und bietet von einem hylozoistischen Weltbild, also der Vorstellung, dass alles belebt sei, bis zur technomorphen Interpretation von Organismen als komplexe, aber empfindungs- und interessenlose Maschinen jede erdenkliche Position an.

Auch wenn wir eingangs festgestellt hatten, dass sich der Gegenstand der Tierethik nicht allein auf Basis biologischer Systematik definieren lässt, bin ich daher der Meinung, dass naturwissenschaftliches Wissen notwendig ist und auch herangezogen werden sollte, wenn es zu bestimmen gilt, inwieweit ein konkreter Organismus den Anforderungen einer auf Individualität basierenden Mensch-Tier-Beziehung entspricht und damit in den Gegenstandsbereich der Tierethik fällt. Eine rein physikalisch-mechanistische Betrachtung des Tieres à la Descartes** steht dann nicht nur mit unserer Alltagserfahrung mit Tieren im Widerspruch, sondern ist gerade aufgrund unserer heutigen naturwissenschaftlichen Annahmen und Erkenntnisse unhaltbar. Angesichts der Tatsache, dass unsere empathischen Leistungen – deren Reichweite schon bei unseren Artgenossen fragwürdig ist – bei Tieren auf prinzipielle Grenzen stoßen, scheint naturwissenschaftliches Wissen zudem auch in Bezug auf die inhaltliche Bestimmung tierethischer Normen bedeutsam. Wenn die Tierethik die Interaktion von Menschen und Tieren – als gleichermaßen tatsächlich seiende, biologische Entitäten – zum Thema macht, muss sie empirisch-physiologische Erkenntnisse über die Interaktionspartner als relevant erachten. Und wer an einer ethischen Fundierung unseres Umgangs mit Tieren und der Implementierung tierethischer Normen interessiert ist, sollte die Auseinandersetzung mit dem Problembereich nicht disziplinär beschränken.

Unsere moderne Gesellschaft zeichnet sich durch eine große Bandbreite parallel gelebter Mensch-Tier-Beziehungen und durch vermehrte Kollision von widerstrebenden Interessen im Bezug auf den Umgang mit Tieren aus. Tiere sind Begleiter, Wirtschaftsgüter, Nahrung und – als Versuchstiere – Opfer unseres Sicherheitsbedürfnisses. Sie sind aber auch Mitbewohner im globalen Ökosystem und als Produkte menschlicher Schöpfungstätigkeit in verstärktem Maße Schutzbefohlene. Nur wenn wir die unterschiedlichen bestehenden Interessen als Ausgangspunkte eines Diskurses annehmen ist eine Verständigung auf allgemein anerkannte Regeln im Umgang mit Tieren denkbar.


Neue Wege der Tierethik, Teil I
Die Fortsetzungsfolge „Neue Wege der Tierethik“ verfolgt einen inklusiven Ansatz. Sie lässt Personen unterschiedlicher (Fach-) Hintergründe mit verschiedenen Perspektiven auf Tiere zu Wort kommen und schlaglichtartig einzelne kontroverse Aspekte und Ansätze aus dem Bereich der Tier­ethik beleuchten. Themenvorschläge, Anregungen und Kritik sind jederzeit erwünscht.


Weitere Artikel der Serie Neue Wege in der Tierethik:


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